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William Forsythe — Architekturen und Menschen als Klangkörper

Der Künstler und Choreograf William Forsythe weiht den noch leeren Neubau des Kunsthauses Zürich mit dem Publikum zusammen ein. Für ‹The Sense of Things› installiert er eine monumentale Klangskulptur aus Kirchenglocken im ganzen Gebäude, die nicht nur die Architektur, sondern vor allem auch die Besucherinnen und Besucher aktivieren soll. 

von Damian Christinger

Noch steht das neue Gebäude des Kunsthauses Zürich von David Chipperfield still und stumm am Heimplatz und harrt der Menschen, die es einmal besuchen sollen. Die Räume sind leer, ein grosses Mobile von Calder, der ‹Grundstein› von Urs Fischer und ein Diptychon von Robert Delaunay sind die einzigen Kunstwerke, die bis anhin installiert wurden. Die Kuratorin Mirjam Varadinis und die beiden Teammitglieder von Forsythe, Julian Richter und Emma McCormick-Goodhart, richten mit einigen Campanologen der Firma Muribaer zwei schwere Holzjoche neu aus und verschieben sie um genau zehn Zentimeter. Der Künstler William Forsythe selbst muss derweil wegen der andauernden Pandemie aus dem fernen Vermont zugeschaltet werden. Varadinis und er kennen sich aber bereits von einer Zusammenarbeit für die Ausstellung ­‹Action!›, 2017, bei der ein tiefschwebender Kubus die Möglichkeiten der Besucherinnen, sich zu bewegen, stark einschränkte. ‹A Volume Within Which It Is Not Possible for Certain Classes of Action to Arise› wurde damals minutiös in die Ausstellungs­architektur eingepasst, führte die Begrenzungen, die sich dem politisch aktiven Subjekt entgegenstemmen, anschaulich vor Augen und machte die Erfahrung gleichzeitig körperlich erlebbar.

Vivos voco – die Lebenden ruf’ ich
Dies kann als Kern des künstlerischen Schaffens von Forsythe formuliert werden: Die Ästhetik der visuellen Schönheit, sei sie objektbezogen, skulptural oder architektonisch, erschliesst sich für ihn erst durch eine ganzheitliche, körperliche Sinnes­erfahrung, auf die der ursprünglich griechische Begriff Aisthesis (Empfindung oder Wahrnehmung) hinweist. Diese Erfahrung verändert sowohl Körper als auch Raum, ermöglicht in der Wechselwirkung die Entfaltung von Kräften. Im Verhältnis zwischen Bewegung und Objekt, Mensch und Dynamik schlummert immer das Potenzial des Aufbruchs. Auch als Choreograf führte Forsythe diese Prinzipien immer wieder an die Grenzen des tänzerisch Möglichen, unter anderem in Zürich. Unvergessen bleiben ‹One Flat Thing, reproduced›, ‹Approximata Sonata› im Opernhaus oder ‹The Defenders› im Schiffbau (bereits vieles der Installation für ‹Action!› durchdenkend). In den 1990er-Jahren wurden die installativen Arbeiten für den Choreografen immer wichtiger, die «choreographic objects» entwickeln sich konsequent aus den Erfahrungen der tänzerischen Körper heraus. ‹City of Abstracts 2020› hat diese Transformation auf einem alten Glastransporter während der ersten Welle der Pandemie für das Zürcher Theater Spektakel durch die Stadt getragen. Näherte man sich dem interaktiven LED-Screen, wurde man auf ihm sichtbar und löste sich langsam in einem spiralförmigen Wirbel aus gestreckten, sich teilenden Körpern auf. Ankommen und Entgrenzung, mystische Vereinigung bei deren gleichzeitiger Unmöglichkeit, während das «Physical Distancing» in den deutschen Sprachgebrauch einschlug.
Nun also das Kunsthaus während einer dritten Welle, nach einer Zeit, in der die globalen Kunstinstitutionen ohne Besucherinnen und Besucher auskommen mussten und wir ohne das Erlebnis von Kunst im gemeinsamen Raum. Insgesamt acht Glocken werden den Neubau zum Klingen bringen. Gefunden wurden sie über eine Kirchenglockenbörse in Deutschland. Sie stammen aus zwei verschiedenen Geläuten und passen also klanglich nicht so ganz zusammen. Werden zwei Glocken angeschlagen, entstehen so Dissonanzen, zum Beispiel «g» und «as», Obertöne und Untertöne scheinen sich ineinander zu verzahnen und gleichzeitig auseinanderzudriften, ergänzen und stören sich; Wohlklang geht anders.

Mortuos plango – die Toten beklag’ ich
Kritiker werden nun einwenden, dass ‹The Sense of Things› das Selbstverständnis eines repräsentativen Museums der Gegenwart verkörpere. Die Kathedrale der Moderne, das Museum, rufe seine Gläubigen zum dissonanten Gebet. Die Interdependenz von Klang und Architektur, Macht und Repräsentation ist in den Topos der Glocke eingeschrieben. Die mittelalterliche Stadt wurde nicht nur durch Bauwerke begrenzt, unterteilt, gegliedert und symbolisch konnotiert. Auch akustische Signale hierarchisierten die Öffentlichkeit. Neben dem Marktschreier und der ­Militärkapelle waren vor allem die laut tönenden Glocken hierfür die massgeblichen Instrumente. Sie unterteilten den Tag in Stunden und Abschnitte, erinnerten die Gläubigen an ihre Pflicht gegenüber Gott und Obrigkeit, warnten vor Katastrophen wie Feuer und Überschwemmung, schlugen zum letzten Geleit der Verstorbenen. Angesichts dieser herausragenden Bedeutungen bei der raumzeitlichen Strukturierung städtischer und religiöser Gemeinschaften weisen die Glocken einen besonderen Objektcharakter auf. Als Mittler zwischen Himmel und Erde sind sie geweiht und haben heilsstiftende Wirkung. Die materielle Kostbarkeit sowie die aufwendige Logistik ihrer Herstellung und Bedienung, aber auch ihre musikalische Qualität, ihr rhythmisches Erklingen stellten die symbolische Kommunikation zwischen dem Diesseits und dem Jenseits dar.
Die Zürcher Reformation änderte dies nicht, sondern verstärkte in ihrer Ablehnung der kirchlichen Bildwerke die Konfluenz zwischen Wort und Klang, Macht und Schwingung. Zwingli wäre von den Glocken in den bildleeren Hallen des Kunsthauses begeistert gewesen. Nun könnte man also annehmen, dass Forsythe diese Bezüge aufnimmt und sie in den kühlen, repräsentations- und symbolbewussten Räumen und Architekturen von Chipperfield kontextualisiert. Ein technisches Detail ändert diese Interpretationsebene nachhaltig. An ihrem Scheitel an Jochen aus groben Balken mit industriellen Klammern befestigt, werden die acht Glocken über beide Stockwerke verteilt. Während sie im ersten Stock «pur» angeschlagen werden, erhalten sie im oberen Stockwerk elektronische Verstärkung durch Lichteffekte und einen Subwoofer, der die Untertöne akzentuiert. Die Klöppel wurden entfernt und die bronzenen Klangkörper werden von aussen angeschlagen. Dieser technische Eingriff ändert nun alles: Sie überführen die Glocken aus einem westlich-europäischen Kontext, wo die Glocken von innen in Schwingung versetzt werden, in einen transkulturellen und vorchristlichen. Afrikanische und mesoamerikanische, buddhistische und hinduistische Glocken werden von aussen angeschlagen. Die Funktion der Glocken im gesellschaftlichen und rituellen Zusammenhang mag von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein. Was sie dennoch verbindet, ist die Schaffung eines gemeinsamen Raums. Der ephemere Klang verbindet die individuelle Wahrnehmung zu ­einem kollektiven Erlebnis, die poetische Unterbrechung der Alltagsgeräusche signalisiert und akzentuiert einen spezifischen Moment.
Während die Kirchenglocken bei uns immer noch mit Ordnung und Andacht, Struktur und Trauer konnotiert sind, stehen die Kirchtürme und ihr Klang global gesehen für Unterdrückung und Kolonialismus. Die Trauer mischt sich mit Wut. Die Erneuerung von globalen, gemeinschaftlichen Räumen unter reziproken und gerechten Bedingungen scheint nach den Ereignissen des letzten Jahres dringender denn je. Ein poetischer Bruch mit dem Dröhnen des Alltags gehört zu den Kernaufgaben einer Institution, die der Kunst gewidmet ist.

Fulgura frango – die Blitze brech’ ich
«Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango.» – Die Lebenden ruf’ ich. Die ­Toten beklag’ ich. Die Blitze brech’ ich, steht als Motto über dem ‹Lied von der Glocke›, 1799, zwischen Titel und der ersten Zeile: «Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Lehm gebrannt.» Schiller entnahm es der Umschrift auf der Glocke im Münster Schaffhausen von 1486 und transformierte es in den Auftakt einer Ikone des Bildungsbügertums. Der Vorgang des Glockengiessens und -schlagens ist aber transkulturell und steht für einen Akt der Zivilisation und die Zivilgemeinschaft.
Wenn die Besucherinnen und Besucher nun aus den Tiefen des Verbindungsgangs in die übergrosse Halle des Neubaus auftauchen und wie ein kollektives Echolot versuchen, die Quellen der polyphonen, kontrapunktischen Komposition zu lokalisieren, kommen sie nicht umhin, die Räume in Abwesenheit der visuellen Kunst wahrzunehmen. Die Ikonen der westlichen Moderne fehlen noch, die Leerstellen ermöglichen ­einen unbefangenen und neuen Zugang zum Begriff der Kunst. Die Choreografie, die uns Forsythe vorschlägt, ist eine Bewegung der Kontemplation und ­Neuinterpretation. Leitend für seine Auseinandersetzung mit den Glocken war für ihn die Erinnerung an das Gedicht von A. E. Housman «When the bells justle in the tower …» (Seite 41).
Dieser Zugang zum kontrapunktischen Glockenklang wird durch ein wunderbares Begleitprogramm, das Mirjam Varadinis in enger Abstimmung mit dem Künstler entwickelte, unterstützt. Wenn wir uns auf eine Führung durch eine Gehörlose oder die Expertise einer nicht sehenden Theologin einlassen, so werden wir uns bewusst, dass die herrschenden Hierarchien in der Kunst nicht festgemauert in der Erde stehen. Wenn wir tänzerisch in Bewegung kommen, wird ein frischer Blick auf kanonisierte Kunst möglich. Die Glocken von William Forsythe läuten eine neue Zeit für das Kunsthaus Zürich ein, ohne die Fehler der Vergangenheit ausser Acht zu lassen.

When the bells justle in the tower
The hollow night amid
Then on my tongue the taste is sour
Of all I ever did. A. E. Housman

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